Es gibt das schöne deutsche Sprichwort: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Es ist zwar schön, aber es stimmt nicht, zumindest nicht immer.

Der Wille ist nur das eine Element – was ist Deine Absicht, worum geht es, was willst Du ausdrücken, welche Bewegung willst Du machen? Das ebenso wichtige andere Element, und das wird so häufig in seiner Bedeutung vollkommen unterschätzt, ist der Raum, in dem Du das, was Dein Wille ist, realisieren möchtest.

Was bedeutet „Raum“?

Der Raum ist das, in dem eine Handlung geschieht. Im Sinn des äußeren Raums versteht man das ganz leicht: die Küche, das Wohnzimmer, das Büro, die Club, das Auto, das Bett… – alles Räume. Aber im Sinn der Definition sind auch Menschen Räume, Familien, und auch Gemeinschaften oder Gesellschaften. Auch unser eigener Körper kann in diesem Sinn als Raum betrachtet werden. Auch Soziale Medien sind ein eigener Raum.

Häufig haben wir natürlich gelernt, wie man mit den Begrenzungen der äußeren Räume umgeht. Niemand käme auf die Idee, in einen Club zu gehen, um dort zu meditieren oder klassische Musik zu hören.

Auch Menschen sind Räume

Viel schwieriger wird das, wenn man den Begriff des Raumes auch erweitert wie oben auf andere Menschen.

Wenn wir ein Thema haben, das uns wichtig ist, das uns sehr umtreibt, und das wir unbedingt mit unserem Partner besprechen möchten, ja besprechen müssen – wie gehen wir vor? Nun ja: Häufig „überfallen“ wir unseren Partner – ohne vorher auch nur einen Moment hin gespürt zu haben, ob denn unser Partner auch empfänglich ist für das, was uns gerade wichtig ist. Unser Wille ist da, klar, aber vielleicht der Raum (in diesem Beispiel im Partner) nicht offen, damit aus diesem Willen auch etwas Gutes werden kann.

Das betrifft Partnerschaft, das betrifft Arbeitssituationen, das betrifft eigentlich jede Form der Kommunikation.

Also: kann ich wahrnehmen, ob der Raum des Partners, des Gegenübers empfänglich ist für meinen Willen, oder ob er zu eng, zu begrenzt ist. Und wenn der Raum zu eng ist, was bedeutet das dann? Gebe ich auf und ziehe mich frustriert zurück? Oder gibt es die Möglichkeit zu warten, auf eine bessere Situation, in der es eher stimmt, in der der Raum mehr tragen kann? Oder kann ich etwas tun, um den Raum zu entspannen, um ihn vorzubereiten, um ihn darin zu unterstützen, weiter zu werden? Oder – was häufig der Fall ist – mache ich genau das Gegenteil, mache ich den Raum noch enger.

Wie sieht unsere Tanzfläche aus?

Mein früherer Lehrer hatte das schöne Bild von der Tanzfläche: wir alle träumen davon, durch unser Leben zu tanzen, freudig, leicht. Sind wir uns aber bewusst, wie unsere Tanzfläche aussieht? Und verstehe mich nicht falsch – es geht nicht darum, in die kanadische Einsamkeit zu gehen, weil wir dort ungestört tanzen können (abgesehen vielleicht von den Grizzly Bären). Nein, es ist normal, dass sich auch Andere auf der Tanzfläche befinden, und „das ist auch gut so.“ Nur: mit unseren Handlungen, mit unseren Aktivitäten – haben wir die Tanzfläche im Blick – sorgen wir für sie, dass sie nicht zu voll wird? Oder wollen wir zwar frei tanzen, stellen die Tanzfläche aber immer voller? Um uns dann zu wundern, dass wir immer mehr gestresst werden?

Wie gesagt, ein voller Club ist ungeeignet, um klassische Musik zu hören…

 

Auch wir selbst sind Räume

So wie die Anderen Räume sind, sind auch wir es. Und auch wir haben Grenzen, auch wenn wir sie häufig nicht wahrhaben wollen.

 

Vielleicht einmal ein Beispiel aus dem Ashtanga Yoga: es gibt eine bestimmte Position, z.B. der Lotussitz, die ich unbedingt können WILL. Nun gibt es diejenigen, die sind von der Natur bzw. den Genen mit sehr offenen Hüften beschenkt – für die ist der Lotus überhaupt keine große Sache. Es gibt aber viele, gerade hier im Westen – und häufig auch schon mit jungen Jahren -, da sind die Hüften total zu. Was bringt es jetzt, wenn man an den Beinen herumzerrt, die Füße abknickt – Hauptsache, man hat einen Anschein von Lotus? Nichts, im Gegenteil, über kurz oder lang kommt dann die Verletzung, weil der Körper sich wehrt. Der Wille reicht nicht – der Raum (in diesem Fall der Körper) muss auch bereit sein, oder, wenn er es nicht es, durch langes, achtsames, sanftes Üben vorbereitet werden.

Yoga als eine Möglichkeit zur Weitung des Raums

Dieser Beitrag soll kein Werbe“blog“ für Yoga werden – ich nehme das Yoga nur als Beispiel: durch regelmäßiges Praktizieren und auch durch regelmäßiges Praktizieren an der selben Stelle besteht die Chance, dass der Raum geweitet wird.

Und das Überraschende, und das haben schon viele erlebt: wenn der körperliche Raum sich weitet, weitet sich auch der geistige Raum.

Aber dazu an anderer Stelle mehr.

Achtet immer auf die Räume

Vielleicht kann dieser Blog Dich sensibler machen für die Räume, in denen Du Dich bewegst. Das geht nicht über Nacht, aber es geht. Lerne mit der Zeit, immer auch darauf zu achten, in welchem Raum das, was Du tust, das, was Du vorhast, sich entfalten soll. Und dann beobachte, erspüre diesen Raum, diese Räume. Versuche, sie zu begreifen – was brauchen sie, was macht sie schöner?

Ich bin sicher, dass Du viele positive Überraschungen erleben wirst (und weniger Energie verschwenden), wenn Du erst diese Frage klärst, bevor Du losstürmst, um das zu tun, was Dein Wille für richtig erachtet.