„Yoga? Klar – das ist das, was ich einmal pro Woche im Fitnessstudio mache.“

Wenn Du Yoga auf dieser Ebene kennengelernt hast, kann es Dir durchaus guttun. Ein tieferes Verständnis für Yoga wirst Du dabei aber kaum entwickeln – und vielleicht suchst Du das auch gar nicht. Wer Zumba tanzt, muss schließlich auch nicht recherchieren, wer Alberto Peréz ist.

Doch falls Du Dich wunderst, wie es dazu kam, dass eine jahrtausendealte indische Praxis heute als Gruppenkurs zwischen Spinning, Bauch-Beine-Po und Zumba angeboten wird, dann lohnt sich ein Blick in das neue Buch von Dr. Gunda Windmüller:

Yoga – Wie es wurde, was es ist. Kulturgeschichte eines globalen Phänomens.
Rowohlt Polaris, Hamburg, 295 S., 24,00 € als Hardcover, 19,99 € in der Kindle-Ausgabe

Ein kulturgeschichtlicher Ritt durch 3000 Jahre

Auf rund 300 Seiten beschreibt Gunda Windmüller – gut zu lesen und mit einer guten Portion Berliner Direktheit, um nicht zu sagen Berliner Schnauze – die „Kulturgeschichte des Yoga“. Ihr gelingt es, viele der heutzutage gerne Yoga zugeschriebenen Konzepte zu entzaubern und dabei deutlich zu machen: Yoga war und ist nie ein fester Begriff, sondern vielmehr ein Bedeutungs-Joker. Je nach historischem und kulturellem Kontext war und ist Yoga:

  • ein Weg zur Erleuchtung,
  • Teil des indischen Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Kolonialmacht,
  • ideologisch vom Hindu-Nationalismus vereinnahmt,
  • und auch ein weltweit florierender Markt von fast 50 Milliarden US-Dollar.
  • und vieles mehr.

Drei große Abschnitte – mit ganz verschiedenen Blickwinkel auf das Yoga

  1. Frühgeschichte und klassische Texte

Im ersten Drittel geht es um die Ursprünge: von der Bhagavad Gītā und den Yoga Sūtra des Patañjali bis zur Entstehung des Hatha-Yoga. Gunda Windmüller ist gut vertraut mit aktuellen wissenschaftlichen Debatten. Sie geht sogar auf die spannende Frage ein, ob die in Yoga-Kreisen so beliebte Yoga Sūtra ursprünglich eigenständig gedacht war (das glauben die meisten), oder ob der älteste Kommentar dazu (der einem Vyāsa zugeschrieben wird) eigentlich von Patanjali selbst stammt (eine beispielsweise von Philipp Maas – für mich sehr überzeugend – vertretene Hypothese). Wobei sich die Autorin mit einem eigenen Urteil zurückhält – ihr geht es mehr um „entzaubern“.

  1. Der Weg in den Westen

Im zweiten Teil wendet sie sich der Zeit vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu.

Die wichtigen großen „Ereignisse“ auf dem Weg des Yoga zum weltweiten Phänomen, z.B.

  • die Entdeckung, dass Sanskrit – wie Griechisch, Latein, Deutsch und Englisch – zur Familie der indoeuropäischen Sprachen gehört,
  • die begeisterte Rezeption der „uralten indischen Weisheiten“ durch die Romantiker, vor allem in Deutschland,
  • die Rolle von Swami Vivekananda, der ein selbst geschneidertes und auf den US-Markt angepasstes Yoga-Paket sehr erfolgreich in die USA transponierte

fasst Gunda Windmüller  auf interessante Weise zusammen (unter Nennung der Quellen). Sie schildert auch, wie Esoterik, Mystik, und New Age hemmungslos die alten indischen Schriften vereinnahmen und Konzepte erzeugen, die mit der ursprünglichen Yoga-Philosophie wenig bis gar nichts gemeinsam haben. Dabei nennt sie die Theosophen an erster Stelle, aber auch der gute Rudolf Steiner (ursprünglich ja auch ein Theosoph) und die von ihm begründete Antroposophische Bewegung werden besprochen.

Auch die Vereinnahmung des Yoga und der Kastenkonzepte durch die Nazis erwähnt sie, und auch Mathias Tietke (siehe meine Buchbesprechung)  hat sie aufmerksam gelesen und – neben anderen Quellen – unter der Überschrift „die Yoga-Rezeption biegt nach rechts ab“ komprimiert.

  1. Moderne Entwicklungen und Popkultur

Der dritte Teil ist dann dem Yoga-Hype der letzten Jahrzehnte gewidmet, mit Ausflügen querbeet – Bhagvan bzw. Osho, Maharishi Mahesh Yogi mit den Beatles, Ravi Shankar, Krishnamacharya, Iyengar,  und viele mehr. Auch MeToo und Patthabi Jois und andere gefallenen Gurus erwähnt sie. Sie auch geht ausführlich auf das Thema „Frauen und Yoga“ ein und auch auf das Thema „Gefahr des Machtmissbrauchs“, über MeToo-Entgleisungen hinaus. Und kritische Worte zum Hindunationalismus und den Missbrauch des Begriffs „Yoga“ für politische Ambitionen fehlen auch nicht.

Dabei gelingt es ihr, viele Entwicklungen kritisch zu beleuchten, ohne dabei das Kind mit dem Badewasser auszuschütten.

Mein Eindruck

Das Buch liest sich flüssig und unterhaltsam – manchmal für meinen Geschmack fast zu gefällig und im Strickmuster eher einer Sammlung von kurzen Artikeln über die einzelen Hauptakteure ähnlich. Man spürt den journalistischen Hintergrund der Autorin, was die klare Sprache angeht, als auch ihren Hintergrund als Literaturwissenschaftlerin, was die gute Quellenlage erklärt.

Für Einsteigerinnen und Einsteiger ist das Buch ein gelungener Überblick. (Nebenbemerkung: sie gendert in der Gegenwart, aber nicht für die Vergangenheit, in der zumindest dokumentiert Yoga eine reine Männer-Domäne war.)

Wer bereits tiefer in der Materie steckt, wird an manchen Stellen vielleicht eine stärkere inhaltliche Zuspitzung oder spirituelle Tiefe vermissen. Für „Neulinge“ ist es aber in Summe ein leicht und schnell lesbarer Überblick, ohne Wesentliches wegzulassen – das hat sie echt Spitze hinbekommen. Über das Glossar ist das Buch auch gut geeignet, um kompakt den ein oder anderen Namen mal nachzusehen.

Ihren Respekt für das traditionsreiche Kaivalyadhama-Institut teile ich sehr – dies ist die einzige Yoga-Einrichtung ist, die sie in ihrer Danksagung explizit nennt.

Gunda hat selbst auch eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin absolviert. Ich konnte über das Internet nicht herausfinden, ob sie aktuell unterrichtet – nach einer Buchbesprechung im Juni bot sie auf jeden Fall Unterricht im Vinyasa Flow-Stil an, für alle Levels. 

Die spirituelle Dimension des Yoga – die sie durchaus anerkennt – scheint ihr selbst (noch) nicht so sehr zugänglich geworden zu sein. Das kenne ich auch – ein analytisch gut entwickelter Kopf kann manchmal beim „Loslassen“ eher störend sein (hier spreche ich von mir selbst, ob das bei ihr auch eine Rolle spielt, weiß ich nicht, ich kenne sie nicht persönlich).

Für sie selbst ist Yoga im 21. Jahrhundert wohl das, was uns da abholen kann, wo wir gerade sind. Und primär ein körperlicher Weg. Sicher für viele ein sehr guter Einstieg.

PS: Wenn Du bei mir vor Ort Yoga praktizierst – Du kannst das Buch gerne ausleihen.