Zum Einstieg eine weitere meiner Lieblingsgeschichten zum Thema Wahrheit:
Der Teufel ging mit einem Freund spazieren. Vor ihnen ging – in einigem Abstand – ein Mann, den sie nur von hinten sehen konnten. Plötzlich bückte sich der Mann, hob etwas auf und ging weiter. Offensichtlich freute er sich sehr über seinen Fund, denn er ging aufrechter und mit mehr Elan.
Daraufhin sagte der Freund des Teufels „Ich wüsste zu gerne, was er gefunden hat.“ Der Teufel antwortete: „Das kann ich Dir sagen. Er hat ein Stück von der Wahrheit gefunden.“ Dazu meinte der Freund: „Oh, das ist aber schlecht für Dich.“ „Im Gegenteil, mein Freund, im Gegenteil.“ lächelte der Teufel. „Ich werde nachher einfach zu ihm gehen und ihm vorschlagen, daraus eine Religion zu machen.“
Die Geschichte stammt von Jiddu Krishnamurti, und ich erzähle sie nicht, weil ich irgendetwas gegen Religionen habe. Nein, überhaupt nicht. Für mich ist der Glaube an etwas Höheres sehr, sehr wichtig, und er kann unser Leben erleichtern und ihm Bedeutung geben.
Wahrheit sollte demütig machen, nicht arrogant
Probleme habe ich damit, wenn eine Gruppe von Menschen sich anderen Menschen überlegen fühlt, weil sie sich im Besitz „der absoluten Wahrheit“ glaubt, und daraus Machtansprüche gegenüber Andersdenkenden ableitet. Dies hat zu Kreuzzügen geführt, zu Pogromen, zu Völkermord und vielem mehr, im Großen wie im Kleinen. Viel Leid ist über die Jahrtausende so entstanden und entsteht leider auch heute noch. Das ist nicht auf die Religionen beschränkt, auch Ideologien können hierzu führen. Der Nationalsozialismus ist ein schreckliches Beispiel dafür.
Die Geschichte passt also ziemlich gut zu dem „ich weiß, dass ich nichts weiß“ von Sokrates – sie ist nur am anderen Ende des Spektrums angesiedelt.
Worum geht es mir heute? Ich finde, dass jede und jeder von uns das Recht hat, die persönliche innere Wahrheit zu suchen und zu finden. Dies kann im Rahmen einer Gemeinschaft geschehen oder auch auf dem eigenen Weg.
Der persönliche Weg zur Wahrheit
Der Mann, von dem die obige Geschichte stammt, Jiddu Krishnamurti, ist ein Beispiel für jemand, der einen eigenen Weg suchte – und auch andere aufforderte, es ihm gleich zu tun. Bereits als junger Mann war er Anfang des 20. Jahrhunderts von führenden Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft auf eine besondere Aufgabe vorbereitet: er sollte als „wiedergeborener Weltenlehrer“, als Messias in der Nachfolge Jesus, die Mitglieder eines speziell für diesen Zweck neu gegründeten Ordens „Order of the Star of the East“ zum Heil zu führen.
Bei der Versammlung, bei der er dann im Alter von 33 Jahren offiziell die Leitung des Ordens übernehmen sollte, löste er stattdessen den Orden auf. Seine Begründung war, dass er nicht daran glaube, dass ein Mensch andere Menschen zum Licht führen könne. Jeder Mensch müsse den eigenen Weg finden – eine klare Absage an die Überhöhung von Gurus, dem Dogma einzelner Religionen oder Sekten. Er predigte Freiheit, Lebensfreude und Achtsamkeit.
Wahrheit, Mitgefühl und Toleranz
Ich wünsche allen Menschen, dass sie bei der Suche nach der Wahrheit auf ihre Weise und auf ihrem Weg glücklich werden. Gleichzeitig wünsche ich, dass sie tolerant sind anderen Menschen und Gruppen gegenüber, die einen anderen Weg zur inneren Wahrheit suchen oder bereits gefunden haben.
Das Thema „Machtmißbrauch“ und der Glaube, im Besitz der Wahrheit zu sein, ist nicht nur ein Thema für Religionsführer, große Gurus oder populistische Politiker. Das Risiko besteht IMMER, wenn Beziehung zwischen Menschen besteht, die nicht auf Augenhöhe ist. Die Tatsache per se, dass die Beziehung nicht auf Augenhöhe ist, ist nicht das Problem. In der Schule, in der Therapie, in der Medizin, im Coaching usw. usw. ist es normal, dass bestimmte Aspekte der Beziehung nicht symmetrisch sind: die eine Person weiß etwas, und die andere Person will etwas lernen oder benötigt Hilfe.
Allerdings besteht in diesen Situationen immer die Gefahr, dass Dogmatismus und Abhängigkeiten entstehen. Sowohl ausgehend von der Person, die unterrichtet, als auch durch Projektion von denen, die dieses Angebot anspricht.
Prüfe immer, ob es Dir nützlich erscheint
In der Begegnung zwischen Erwachsenen kann das, was gesagt wird, nur ein Angebot sein. Es ist nicht „die Wahrheit“, und schon gar nicht „absolut“. Schau‘ ob es für Dich stimmt, oder inwieweit es für Dich stimmt – und nutze das so lange, wie es Dir nützlich ist auf Deinem Weg.
Um den Blog auch mit einem der Zitate von Krishnamurti abzuschließen:
„Die Wahrheit ist ein pfadloses Land.“