Diesen Blog möchte ich mit einer meiner Lieblingsgeschichten beginnen:

Eines schönen Tages kam ein Geschäftsmann zum Orakel von Delphi, auf der Suche nach Rat in wichtigen Angelegenheiten. Es ist nicht überliefert, welches die Angelegenheiten waren, aber es ist unwahrscheinlich, dass es ihm um spirituelle Entwicklung ging. Eher um Fragen der Geschäftsstrategie. Und da McKinsey und ihresgleichen noch nicht erfunden waren, kam er eben zum Orakel von Delphi.

Allerdings ging die Dame noch nicht einmal in Trance, als sie die Frage hörte, sondern antwortete nur: „Reite nach Athen, zu Sokrates. Er ist der weiseste Mann  Griechenlands.“ Gesagt, getan. In Athen traf der Geschäftsmann dann Sokrates auch an, vor seinem Haus sitzend und sich von einem neuerlichen Streit mit seiner Frau Xanthippe erholend.

Sokrates, der weiseste Mann Griechenlands

Der Geschäftsmann kam schnurstracks zum Thema „Das Orakel von Delphi hat mich zu Dir geschickt. Du seist der weiseste Mann Griechenlands. Ich habe folgende Frage: …“ Weiter kam er nicht, denn Sokrates blickte ihn milde an und sagte nur

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“,

erhob sich, und ging zurück ins Haus, in der Hoffnung, dass seine Frau sich wieder beruhigt hatte.

Woraufhin der Geschäftsmann seinerseits nun voll des Zorns die etwas über 100 km zurückritt nach Delphi, zum Orakel eilte und voller Empörung sagte: „Weißt Du, was er mir zu sagen hatte? Dein Sokrates? Er sagte nur einen einzigen Satz: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Ganz außer sich blickte er das Orakel an. Doch das lächelte nur hocherfreut und sagte: „Siehst Du. Ich habe es Dir doch gesagt: der weiseste Mann Griechenlands.“

Relative oder absolute Wahrheit?

Warum teile ich diese Geschichte mit Dir? Weil ich es wichtig finde, dass wir alle uns immer, immer wieder daran erinnern, dass wir nur Zugang haben zu einer relativen  Wahrheit.

Wichtig ist auch zu wissen, dass wir alle die Tendenz haben, das, was wir denken, glauben, fühlen, für eine absolute Wahrheit zu halten. Dabei ist sie in Wirklichkeit nichts Anderes als genau das: das, was wir denken, glauben, fühlen. Eine mehr oder minder begründbare Überzeugung, im besten Fall eine relative Wahrheit. Wer das nachhaltig erkannt hat – wie Sokrates – ist weise.

Und wenn in uns wieder einmal die Überzeugung herrscht, dass wir ganz klar im Recht sind, und die oder der Andere im Unrecht ist, ist es gut, uns an Sokrates zu erinnern: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Ich weiß damit auch, wie relativ meine Überzeugung ist (und natürlich – aber das ist  v i e l  einfacher – wie relativ die Überzeugung des Anderen ist).

Die Bedeutung des Denkens

 Bis hierher war das ganze sehr philosophisch. Was ist die praktische Bedeutung? Wenn ich weiß, dass ich nichts weiß – wie soll ich dann handeln, wie soll ich bewerten, wie soll ich mich entscheiden, wenn es verschiedene Handlungsalternativen gibt?

Du und ich, wir haben in dieser Situation (mindestens) zwei Möglichkeiten:

Wenn ich mir unsicher bin über das, was stimmt, kann ich mir jemanden suchen, der keinen Zweifel hat oder auch keinen Zweifel zulässt. Diese Person erlöst mich dann aus dem Unwissen: Donald Trump hat gesagt, der Pabst hat gesagt, Hitler hat gesagt, Drosten hat gesagt, Merkel hat gesagt … – und plötzlich habe ich Orientierung, weiß plötzlich, was auch für mich stimmt. Und vergesse dabei, dass auch Trump, der Pabst, Drosten, Merkel nur Menschen sind, für die der gleiche Satz gilt. Da sie aber in einer Rolle sind, in der sie Orientierung geben müssen (und meistens auch wollen, sonst wären sie nicht in dieser Rolle), müssen sie sich dennoch entscheiden, festlegen. Vielleicht der eine aus dem Bauch oder auf der Basis seines jeweiligen Lieblingssenders, der Andere auf der Basis der Lehre der katholischen Kirche, der Dritte auf der Basis seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung und die Vierte auch auf der Basis ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung und ihren früh erlernten protestantischen Tugenden.

Also, die erste Möglichkeit: ich ergreife Partei bzw. ich lasse mich von einer Partei ergreifen.

Die zweite Möglichkeit ist sehr viel schwieriger: ich denke selbst. Ich bewerte selbst. Immer aufs Neue. Immer im Wissen meines Unwissens – aber lieber mache ich meine eigenen Fehler, als die von Anderen.

Was bedeutet es nachzudenken? Gar vorzudenken? Oder querzudenken – im eigentlichen Sinn dieses gerade etwas in Verruf geratenen Begriffs?

Dazu gehört Beobachten, das Offensein, möglichst auch über unseren engen Horizont hinaus. (Einer der Gründe, warum ich ein Anhänger des Erlernens von Fremdsprachen bin – wenn ich mich über die fremde Sprache mit einer anderen Kultur beschäftige, höre ich hoffentlich auf, meine eigene Kultur für den Nabel aller Dinge zu halten.) Es gehört auch Intuition dazu – was sagt mir mein Bauch, meine Eingebung (und auch das bitte nicht für etwas Absolutes nehmen – es aber auch nicht vernachlässigen).

Es gehört natürlich auch dazu, sich mit „Fakten“ zu beschäftigen – und ein eigenes Gefühl zu entwickeln, welche Fakten den Namen wirklich verdienen, und welche nur „Fake news“ sind.

Das Plausible ist plausibler als das Unplausible

Plausible, auf überprüfbaren Fakten beruhende Behauptungen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, der Wirklichkeit nahe zu kommen als irgendwelche Verschwörungstheorien.

Wenn ich mitbekomme, dass in Bergamo LKWs die Leichen abtransportieren mussten im April im Höhepunkt der ersten Welle der COVID-19 Infektionen, wenn ich mitbekomme, dass in der hochentwickelten Stadt New York im April Feldlazaretts aufgebaut werden mussten, um überhaupt noch einigermaßen die Versorgung der Infizierten sicherstellen zu können, und und und – dann sollte es mich zum Nachdenken anregen, was dies bedeuten könnte. Selbst wenn uns in Deutschland diese Erfahrungen bis jetzt erspart geblieben sind.

Da gibt es die eine Hypothese: ein neuer Krankheitserreger ist aufgetreten, der extrem ansteckend ist, aber nicht extrem tödlich, und er hat sich über die gesamte Welt ausgebreitet. Wenn die Ansteckungsraten zu hoch werden, dann kann das gesamte Gesundheitssystem zusammenbrechen (auch bei uns) – mit unüberschaubaren Folgen für die betroffenen Gebiete, die Menschen und die Wirtschaft. Um dies zu verhindern, müssen bestimmte Maßnahmen ausprobiert werden, in der Hoffnung, dass einige davon dazu beitragen, die Ausbreitung dieses Krankheitserregers so lange zu verzögern, bis mehr über ihn bekannt ist, mehr Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen und vielleicht sogar eine Impfung dagegen möglich ist. Manche der Maßnahmen werden sich bewähren, manche nicht. Ohne Ausprobieren und aus dem Probieren Lernen geht es in einer solchen Situation nicht.

Natürlich gibt es auch die zweite Hypothese: es gibt zwar vielleicht einen Krankheitserreger, vielleicht gibt es den aber auch gar nicht, auf jeden Fall sehen jetzt plötzlich die demokratisch gewählten Regierungen die einmalige Chance, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Rechte zu entziehen, sie maximal zu unterdrücken, einzuschränken, um die Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln. Oder oder oder.

Wie werde ich mich entscheiden zwischen diesen beiden Hypothesen?

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ alleine hilft an dieser Stelle nicht wirklich weiter. Dann kann ich mich unkontrolliert hingeben all‘ meinen Ängsten, meinem Frust, den Emotionen, die in mir sind, und auf den Verlust der mir bekannten Normalität so reagieren, wie glücklicherweise nur eine Minderheit reagiert: mit Aggressionen, wilden Verschwörungstheorien oder Größenfantasien, weil ich plötzlich einer der Wenigen bin, der die Zusammenhänge korrekt erkennt – und schlagartig weiß, dass hinter all‘ dem nur Bill Gates stecken kann…

Oder ich nutze mein Gehirn für kritisches Denken, und überlege mir, was eher wahrscheinlich ist, was eher die mir zugänglichen Fakten erklärt.

 

Es irrt der Mensch, so lange er strebt

Und im Wissen über die eigene Fehlbarkeit und die der Anderen kann ich dann bewerten, mich entscheiden, handeln, muss ich sogar handeln. Das Leben ist Bewegung.

Und wenn ich dann im Laufe der Zeit erkenne, dass ich einen Fehler gemacht habe, dann korrigiere ich ihn eben. Es ist nur gut, wenn ich weiß, dass meine Überzeugungen halt nur Überzeugungen sind. Dann können wir sie immer wieder an der Wirklichkeit überprüfen – und auch im Austausch mit Anderen weiterentwickeln.

Eine gute Option ist auch, wenn ich mich frage: “Wenn ich falsch liege (oder die Experten, denen ich in dieser Angelegenheit vertraue), welcher Schaden könnte passieren?“.

Außerdem ist es immer nützlich zu prüfen, ob meine Handlungen der „Goldenen Regel“ gehorchen: „Verhalte ich mich Anderen gegenüber so, wie ich will, dass sie sich mir gegenüber verhalten?“

Für uns alle gilt der Satz Gottes im Prolog zu Faust I: „Es irrt der Mensch, so lange er strebt.“ Das ist aber keine Aufforderung, mit dem Streben aufzuhören.